Veränderungen und Diversität von Lebewesen beruhen auf zwei Hauptmechanismen: Erstens gibt es die generative Vermehrung, der Sex zwischen Lebewesen, die freie Rekombination der Gene, aus der sich immer wieder etwas anderes ergibt. Das mit den Zwillingen lassen wir mal aussen vor. Wenn wir aber schon bei den Ausnahmen sind, ohne die es keine Regeln gibt: Bei den Pflanzen gibt es sogar den Fall, wo Samen, das vermeintliche Resultat des 'Pflanzensex', alle zu 100% das Erbgut der Mutter tragen. Mütter sind einfach näher an ihren Nachkommen, das müssen wir Männer wohl akzeptieren...
Aber bleiben wir schön beim Regelfall: Aus der entstandenen Diversität der Nachkommen wählt dann die Umwelt, die Natur, die besten und fittesten aus, die überleben können. Und bei der Züchtung ist es halt der Züchter, der diese Rolle übernimmt. Dies könnte das enorme Selbstbewusstsein von Züchtern erklären😉
Und die zweite Quelle der Diversität? Das sind schlicht und einfach Fehler, genauer Kopierfehler. Im heiklen Kern der Zelle, in der DNA, entsteht bei der Zellteilung ein Kopierfehler, eine Tochterzelle trägt eine wie auch immer veränderte DNA, was sich eventuell auch im Äusseren, an sichtbaren Eigenschaften der aus der Zelle entwickelten Pflanze oder der entsprechenden Pflanzenteile zeigt. Und wieder entscheiden Umwelt und modern auch der Züchter, was gut ist und überlebt. Mutationen sind grundsätzlich immer ungerichtet, sie können überlebensmässig produktiv, neutral oder gar schädlich sein. Da die überlebenden Mutanten definitionsgemäss meist positiv sind (also die Überlebensfähigkeit verbessern und allenfalls Nahrung für Mensch und Tier bieten) haben wir oft den falschen Eindruck, dass das alles zielgerichtet geschehe. Tut es nicht. Übrigens, auch Züchter tendieren dazu, den Einfluss ihrer so wohlgewählten Keuzungspartner und wissenschaftlichen Strategien zu überschätzen und den Züchter Zufall zu unterschätzen.
In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ereignete sich eine solche Mutation in einem Obstgarten in British Columbia. Tochter Wendy machte den Besitzer, Anthony Wijcik, auf einen speziell wachsenden Ast aufmerksam. Eine Knospe der uramerikanischen und unamerikanisch tragischen Apfelsorte McIntosch veränderte sich aufgrund einer solchen Mutation: Der daraus entstehende Trieb zeigte ein deutlich verändertes Wachstum: kurze Internodien, ein sehr aufrechter, aber gedrungener Wuchs, kaum Seitentriebe. Und durch Veredlung (Okulation oder Kopulation) gelang es auch wieder Kopien dieser neuen spontan entstandenen mutierten Sorte mit dem Namen Wijcik herzustellen.
Zunächst hatte ein genau hinschauender Obstbauer (bzw. seine Tochter Wendy) die Mutation entdeckt, dann kamen die Züchter, die einen neuen Baumtyp, die Säulenäpfel entwickelten, die allesamt auf diese einzige Knospenmutation, auf den Kopierfehler, zurückgehen. Fehler können manchmal ganz produktiv sein.
Unterdessen sind sicher 200 plus Säulenapfel-Sorten entstanden, allein unser Malini®-Sortiment aus der eigenen Lubera-Züchtung zählt 11 verschiedene Sorten – und einige neue sind noch auf unseren Züchtungsfeldern unterwegs. Und es erstaunt sogar mich, den Züchter, was wir aus dem schlichten Wijcik (der übigens wie McIntosh grundsätzlich ein schlechter Elter ist, und mit Vorliebe schlechte Eigenschaften vererbt) herausgeholt haben, obwohl wir sozusagen gegen den Strom schwimmen mussten:
Superkompakte und auch superschlanke Säulenäpfel, gelbe, zweifarbene und ganz rot gefärbte Früchte, rotfleischige Säulenäpfel, sehr süsse, sehr saure und auch ausgeglichene Sorten. Es gibt überraschenderweise eine Eigenschaft, die noch nicht so richtig in die Breite diversifiziert werden konnte, und das ist die Reifezeit. Die frühesten Malini® – so nennen wir die Säulenbäume von Lubera – reifen Ende August (Subito, Pronto), die spätesten Anfang Oktober. Noch haben wir keine Sorten von Juli bis Mitte August. Gut zu wissen, das uns die züchterische Arbeit nicht ausgeht …
Noch eine Mutationsgeschichte gefällig? Na ja, ganz so unschuldig ist diese Mutation nicht, von der ich jetzt erzähle. Dieses Mal ist es kein Kopierfehler, sondern jemand hat einen Kommentar, eine Ergänzung in den Text der DNA reingeschrieben. Ein Bakterium, wohl Agrobacterium tumefaciens, hat frech und ungefragt seine DNA für eine starke, ja wuchernde Zellteilung auf seinen Gastgeber, eine unschuldige Kletterpflanze namens Ipomea, übertagen, irgendwo in Südamerika, vor Urzeiten. Und was ist daraus entstanden: Unsere Süsskartoffeln!
Die übertragenen Eigenschaften (einen Teil der DNA des Agrobakteriums kann man in jeder Süsskartoffel finden) haben die Knollenbildung angeregt – und den Rest besorgte dann die natürliche und evolutionäre Selektion (welche Pflanzen haben grössere und bessere Reserveorgane). Dazu kam später die menschliche Vorliebe für Zucker und MEHR. Ganz so weit ist übrigens die Domestizierung der Süsskartoffel durch den Menschen noch gar nicht fortgeschritten: Noch immer sehen wir in der Züchtung ab und zu Sämlinge, die nur leicht verdickte Wurzeln, aber keine Knollen machen.
Ich wage es fast nicht auszusprechen, da ich ja unsere wichtigen Süsskartoffelverkäufe nicht gefährden will: Die Süsskartoffel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine transgene Pflanze, die kleine Teile des Genoms des Agrobakteriums enthält.
Die gute Nachricht: Wir haben die Süsskartoffel schon ungefähr 4000 Jahre lang getestet. Das sollte genügen. Noch bilden wir keine Knollen...