Was machen DIE denn da? Solche und ähnliche Fragen muss ich sogar manchmal intern beantworten, wenn sich (und mich) Produktionsmitarbeiter fragen, was für vermeintlich sinnlosen Unfug die Kolleginnen in der Züchtung treiben. So scheint es mir auch wichtig, Euch, unseren Lesern und Kunden von Zeit zu Zeit einen Einblick in die Züchtung zu geben.
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Heidelbeeren entmännigen
Was treiben diese Hände hier mit der spitzigen Nagelschere? Sie entmännigen Heidelbeerblüten, sie kastrieren sie sozusagen; etwas zurückhaltender wird das unter Züchtern Emaskulation genannt. Wie dem auch sei: Hier werden die männlichen Organe, die Pollensäcke aus der jungen Blüte entfernt- und zwar möglichst früh, so dass sich die Blüte nicht mehr befruchten kann. Und dann, ein bis zwei Tage später, wenn Narbe und Stempel schon sehnsüchtig auf den befruchtenden Pollen warten, wird dann mit dem Pinsel bestäubt. Damit können wir genau kontrollieren, wer der Vater ist – eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir die Eigenschaften von zwei Sorten gezielt kombinieren können. Sollten aus der Kreuzung genug Nachkommen entstehen, so haben wir jedenfalls eine intakte Chance darauf, die gewünschte Kombination ungefähr in unserer Wunschzusammensetzung zu erhalten. Ungefähr die gleichen Chancen wie beim Lotto. Aber es soll ja Menschen geben, die gewinnen😉
Und was genau wird hier gekreuzt: Eine zweimal tragende Heidelbeere aus unserer Züchtung (4/64) mit der Sorte 'Echo' von Chad Finn, dem verstorbenen Heidelbeer-, Brombeer- und Himbeerzüchter aus Oregon. Es war übrigens Chad, der mich auf die Idee brachte, zweimaltragende Heidelbeeren zu züchten. Und nun kreuzen wir seine Sorte 'Echo', die grosse Früchte hat, aber für unser Klima zu spät das zweite Mal reift, mit unserer 4/64, die zwar kleinfrüchtig ist, aber 2–3 Wochen früher abreift als 'Echo'. Wir Züchter stehen bei unserer Arbeit immer auf der Schulter von Riesen. Und Chad war ein Riese – körperlich und auch sonst.
Mix it! Gilt auch in der Züchtung
Neben der gezielten Kreuzung – auch das Gegenteil kann Sinn machen: Die freie Kombination von mehreren Selektionen. Dies ist vor allem der Fall, wenn man bei einigen Selektionen eine ganz neue Eigenschaft (in unserem Falle z.B. Selbstfruchtbarkeit bei Vierbeeren und Erstbeeren) entdeckt hat, und für eine gesunde Züchtungszukunft nun einen genetischen Engpass verhindern möchte. Dann werden eben nicht unbedingt die besten 2 selbstfruchtbaren Selektionen gekreuzt, sondern dann werden die Gene der Gruppe so gut wie möglich umgerührt und neu gemischt. Damit stellen wir sicher, dass wir eine möglichst grosse genetische Bandbreite (neben der gewünschten Zieleigenschaft, die alle Eltern gemeinsam haben) mit in die nächste Generation nehmen.
Und wie geht das? Die Elternpflanzen mit der Zieleigenschaft werden gemeinsam in ein Netztunnel gestellt und hungrige Hummeln sorgen dann für die möglichst vielfältige Befruchtung. Das gute an der »Mix it« Strategie: ANDERE ARBEITEN LASSEN!
Himbeeren fest verwurzelt, in Reih und -Glied
Warum zeige ich frisch geschnittene Himbeerreihen in diesem Züchtungsbericht? Erstens weil natürlich Sortenkandidaten zuerst getestet werden müssen, aber dann auch, weil es zwischen unserer Testmethode und den anderen Himbeerzüchtern einen entscheidenden Unterschied gibt: Die meisten Brombeer- und Himbeerzüchter selektionieren ihren Züchtungskinder fast auschliesslich im Topf, eben weil sie im Erwerbsanbau unterdessen auch hauptsächlich im Topf kultiviert werden. Bei uns finden Selektion und Testung im gewachsenen Boden statt, um die Reaktion der Pflanzen auf die natürliche Umwelt (wie in eurem Garten!) zu sehen.
In einem neuen Projekt mit der Schweizer Landw. Forschungsanstalt Agroscope werden wir in Zukunft interessante Selektionen auch ganz gezielt in Wurzelfäule-verseuchte Böden pflanzen, um so gänzlich resistente Sorten zu gewinnen. Zusätzlich entwickeln wir gemeinsam auch weitere biologische Analyse- und Testmethoden zur Feststellung der Phytophthora Resistenz von Himbeeren.
In Garten spielt diese Krankheit leider nach wie vor eine entscheidende Rolle. Wenn aber im Kübel kultiviert wird und wenn Himbeeren im Anbau nur 1-3 Jahre Früchte tragen müssen, bevor sie ersetzt werden, spielt die Wurzelfäule keine Rolle mehr.
Und ja, wenn wir dereinst eine Gruppe von Phytophthora-resistenten Himbeeren für den Garten selektioniert haben, dann werden wir sie mit der Hilfe unserer Hummel-Züchterinnen wieder frei mixen wie oben die Heidelbeeren. Bis dahin aber können wir als erste vollständig Phytophthora-resistente Himbeere die Sommerhimbeere 'Sanibelle' empfehlen…
Wer ist das schönste Äpfelchen im ganzen Land?
Jedenfalls wächst hier ein ganz grosser Jahrgang an Apfelschönheiten heran. Ihre Früchte werde ich voraussichtlich erst in 5–7 Jahren probieren können, dann folgt eine zweite Testgeneration (die zweite Züchtungsstufe) und je nach Interesse und Verwendung weitere Tests, bis nach 13–20 Jahren vielleicht, vielleicht eine neue Sorte entsteht. Aus all diesen Sämlingen werden wir voraussichtlich 5–10 fortgeschrittene Zuchtnummern auslesen. Und wir werden froh und glücklich sein, wenn eine Sorte daraus schliesslich den Weg in unser Sortiment findet – oder vielleicht auch im Erwerbsanbau Fuss fasst. Aktuell konzentrieren wir uns ganz stark auf Sorten mit viel Inhaltsstoffen, mit viel Säure aber auch mit ganz viel Zucker (14–18 Brix). Warum? Weil wir festgestellt haben, dass mit dem Zucker meist auch andere Aromastoffe stärker vertreten sind – und weil unsere Gesellschaft halt von Kindsbeinen an zum Zucker erzogen wird…
Warum und wie neue Obstarten selbstfruchtbar werden sollen?
Im untenstehenden Bild seht ihr Ribes aureum und Lonicera-Pflanzen (Vierbeeren und Erstbeeren), die auf Selbstfruchtbarkeit getestet werden. Dafür werden die Triebe vor der Blüte eingesackt. Wenn danach dennoch Früchte angesetzt werden (ohne dass ein Insekt fremden Pollen herantragen könnte), kann dies nur über Selbstbefruchtung geschehen sein.
Aber warum ist das so wichtig?
Nur selbstfruchtbare Pflanzen können alleine im Garten stehen und Früchte tragen, weil ja keine fremde Pollenauswahl zur Verfügung steht. Selbstfruchtbare Pflanzen/Sorten sind in der Regel auch fruchtbarer als selbstunfruchtbare Arten und Sorten, weil sie nicht unbedingt auf fremden Pollen in der Umgebung angewiesen sind.
Aber wie fast immer ist auch das Gegenteil richtig. Bei sehr verbreiteten Arten wie dem Apfel gilt das Gesagte nicht unbedingt. Zwar sind Äpfel auch selbstunfruchtbar, können sich selber nicht bestäuben, brauchen den Pollen einer fremden Sorte. Aber dennoch ist es beim Apfel nicht unbedingt so wichtig, dass ein Befruchterapfel in der Nähe steht… Man kann in unseren Breiten davon ausgehen, dass die Befruchtung fast immer – ausser an sehr einsamen und apfel-fremden Standorten – funktioniert, da die Insekten, die sich ja gerne auch auf wichtige Blütenarten spezialisieren, immer genügend fremden Apfelpollen auf sich tragen.
Die Bibliothek der Züchter
Brauchen Züchter im Zeitalter von Chat GPT und Google Scholar eine Bibliothek? Nein eigentlich nicht. Oder vielleicht doch?
Jedenfalls bin ich ganz stolz darauf, dass wir im Sitzungsraum eine kleine Züchtungs-Präsenzbibliothek aufgebaut haben. Und sie hat – seht her – immer noch schöne Lücken, so dass ich mir von Zeit zu Zeit mit Zigarre und Portwein im Garten einen schönen Abend machen… und nach Belieben Fachbücher bestellen kann😉 Zahlt ja die Firma… Das ungelesene, frisch gekaufte Buch verspricht so viel, dass das ausgelöste Gefühl – mindestens für mich – ziemlich unvergleichlich ist. Jedenfalls ist das Versprechen so gross, dass es manchmal deutlich besser ist, Bücher nicht zu lesen. Wir benutzen sie in der Züchtungsgruppe vor allem zum Nachschlagen, bei Sachfragen oder wenn wir alt-neue Ideen suchen. Gerade die ältere Züchtungsliteratur aus dem letzten Jahrhundert ist diesbezüglich immer sehr spannend und anregend.
Aber eine andere Bibliothek als die papierene ist noch viel wichtiger, viel wichtiger auch als Google, Google Scholar und ChatGPT: Die Bibliothek der Pflanzen. In diesem Frühjahr haben wir unsere Johannisbeeren und Stachelbeeren sowie Erstbeeren neu aufgepflanzt, um für die zukünftige Züchtung immer alle unsere (und fremde) Züchtungsklone und Basissorten präsent zu haben. Und aus den »alten« Büchern in der Bibliothek ordnen wir dann die Worte neu – und schreiben neue Bücher, neue Sorten. Aktuell stehen 250 verschiedene Sorten in unserer Ribes und Lonicera-Bibliothek: Was da alles draus entstehen kann?